Fortsetzung:
Albrecht beginnt die Geschichte seiner Familie zu erzählen. Das wird spannend. Ankerplätze, Yachttechnik, das Meer, überhaupt die gesamte Türkei tritt in den Hintergrund. Über Tage hinweg entrollt sich die Geschichte einer Familie zwischen den 1890er und den 1980er Jahren mit Schauplätzen quer über Europa. Berlin in den 1920ern kommt vor, Prag, die Schweiz, Paris, der Zweite Weltkrieg, den Albrecht und Wolfgang auf unterschiedliche Weise erlebt haben, nimmt Gestalt an. Es gibt Stoff in vielen Facetten und Fortsetzungen bei langen Abendgesprächen. Und zum Schluss sind wir uns alle einig. Es muss ein Ghostwriter gefunden werden und Albrecht muss das alles noch einmal erzählen, damit das dokumentiert und für die Nachwelt erhalten wird. Eine Kappis-Buddenbrook Geschichte wurde an Bord der SHER M auf dieser Türkei Reise zumindest mental in Auftrag gegeben. Für alle, die ein Leben lang Wolfgang verbunden waren, wird das ein Bestseller werden.
Mühelos passieren wir am frühen Morgen auf dem Weg in den Süden die 7 Kaps, die meisten verpennen diesen navigatorischen Leckerbissen, und erreichen am Vormittag unser Tagesziel Kalkan. Wir ver-meiden den kleinen Gemeindehafen und ankern im nördlichen Teil der Bucht. Einige Gulets liegen in der Nähe. Wir haben die Natur für uns und mein Konzept scheint aufzugehen: wir sind der tausendfachen Charterflotte aus Göcek davongefahren. Vermutlich drücken sie sich in der Fethye Bucht aneinander oder begeben sich auf die Rennstrecke nach Marmaris.
Von Kalkan aus kann man die historische Stadt Xanthos besuchen und zur Auffrischung meines Gedächtnisses bemühe ich einen Kunst-reiseführer aus unserer Türkei-Bibliothek. Wir haben ihn damals bei unserer gemeinsamen Reise 1984 entlang der Südküste gekauft. Er ist in bemühtem Deutsch geschrieben und die Farbfotos sind so grandios schlecht, dass sie schon wieder gut sind, weil historisch. Einen dreißig Jahre alten Reiseführer als Planungsgrundlage zu verwenden mag ein wenig verwegen klingen. Aber die Ursprünge dieser historischen Stadt, um die es geht, sind 3.000 Jahre alt. Was ma-chen da schon 30 Jahre aus?
Ich sehe mich bohrenden Fragen meiner Mitreisenden ausgesetzt: "Wie kommen wir denn da von unserem Boot aus hin? Wo liegt denn diese Stadt überhaupt? Wie lange wird die Tour dauern? Was wird das wohl kosten?" "Das weiß ich auch nicht genau, aber das wird sich alles klären lassen." "Da wird’s aber langsam Zeit." "Nur die Ruhe", sage ich. "Wir sind hier im Orient, da ist Aladin mit seiner Wunderlampe zu Hause und da regelt sich alles fast von selbst."
Kaum zu glauben, aber wahr. Wir beide wechseln eine SMS: "Wenn schon Xanthos, dann auch Letoon und Patara", kommt von Dir zurück. Daraufhin rufe ich Sükrü an. Er kümmert sich um alles. Eine Stunde später ist unser Ausflug arrangiert. Wir werden morgen um 8 Uhr am Hafen erwartet und erhalten einen klimatisierten Minibus mit Fahrer, der uns zum Pauschalpreis zur Verfügung steht. Wenn wir wollen, den ganzen Tag. Das war einfach.
Ich starte mein kulturhistorisches Kurzseminar auf dem Achterdeck. "Falls nichts hängen bleiben sollte", sage ich meinen Mitseglern, "hier ist das Minimum."
Xanthos (seit 1988 UNESCO Weltkulturerbe) geht zurück auf 800 v. Chr., vermutlich sogar auf -1200 und hat bereits im Trojani-schen Krieg eine Rolle gespielt. Die Stadt wurde 1838 durch den englischen Archäologen Fellows entdeckt. In der Folge wurde vieles abgeräumt, zugegebenermaßen mit Erlaubnis des Sultans, und in das British Museum verbracht. Zu sehen ist die römische Agora, die zum Theater führt, aus dem 2. oder 3. Jh. nach Chr. und das römische Theater. Dann gibt es noch 3 Highlights, oben am Rand des Theaters, ein römisches und ein lykisches Säulengrab, daneben die Statue des Harpy mit Reliefs, lykische Kunst mit griechisch inspirier-ten Vogelfrauen. Das muss reichen.
Dann kommt Letoon (seit 1988 UNESCO Weltkulturerbe), das ich versuche etwas volkstümlich zu erklären, damit etwas hängen bleibt. Hier geht es zunächst um Zeus mit seinen vielen Weibern. Eine da-von, die Leta, hat er geschwängert und Leta wurde von Hera seiner offiziellen Frau verfolgt. Auf der Flucht vor Frau Zeus hat Leta ihre Zwillinge geboren und im benachbarten Fluss gewaschen. Hirten, die sich in den Weg gestellt haben, wurden kurzerhand in Frösche verwandelt. Leta und ihre beiden Kinder Artemis und Apollon, die aus Gründen, die hier nicht interessieren, haben es zu einem prominen-ten Platz im lykischen Götterhimmel geschafft. Das Letoon besteht aus den Grundrissen von drei Tempeln für Leta und ihre Kinder. Mehr muss man eigentlich nicht wissen.
Schließlich noch Patara. Hier kann man das schönste und aufwändig rekonstruierte Theater Lykiens sehen und Ahnungen entwickeln, wie diese einstmals große Hafenstadt, die im lykischen Bund (mit eige-nem Parlament) eine große Rolle gespielt hat. Hier befand sich ein großer Schiffsknotenpunkt für die römischen Kontakte. Apostel Paulus (leicht merkbar) hat sich von hier per Schiff nach Rom auf die Reise gemacht.
Lyker, Griechen, Römer – diese Melange gehört zum Türkei-Feeling, das sich über die Steine vermitteln lässt. Für mich gehört das unbe-dingt zu einer Blauen Reise dazu.
Die Russen kommen
Ich hatte eine ungefähre Vorstellung von unserer Reise an die Südküste. Diese Vorstellung wurde hauptsächlich geprägt durch alte Logbucheinträge und Fotos, die ich damals gemacht habe. Auf einem Foto sieht man zwei türkische Kinder, Mädchen, die wir damals oben auf der Burg von Kale getroffen (und fotografiert) haben. Bild Nummer zwei zeigt Udo, mit Ayse in einem Minibus oder Dolmus auf dem Weg nach Myra. Und dann gibt es noch ein schwarz-weiß Foto mit den Masken am Theater von Myra. An die Ankerplätze erinnere ich mich vage. Je näher wir kommen, desto mehr an Erinnerung kommt zurück. Ich unterscheide mich dabei nicht wesentlich von Kaptan Hüseyin, der seit 10 Jahren nicht mehr hier unten im Süden war. Er führt sein Schiff im Sommer wie ein Linienbus normalerweise auf der Route Bodrum-Bodrum oder Bodrum-Marmaris.
Weil ich oft dort war sind mir die Ankerplätze um Bodrum und im Hisaröni Golf in guter Erinnerung. Ich erzähle ihm ein wenig davon und wir kommen sprachlich ganz gut klar, obwohl die Schnittmenge nicht besonders groß ist. Sein Englisch entspricht etwa meinen Türkischkenntissen. Yedi Adalari, Englisch Harbour und Akbük muss man nicht übersetzen. Das versteht jeder Segler. Den Durchbruch und die endgültige Festigung unserer Freundschaft erlebe ich als ich Çökertme erwähne.
"Gibt es den Kaptan Ibrahim eigentlich noch?" frage ich. Er lacht laut auf und ich weiß warum. In Seglerkreisen ist Kaptan Ibrahim eine Legende, der in dieser Bucht eine Kneipe betrieb. Zu fortgerückter Stunde unterhielt er seine Gäste mit einem Tanz, den er in Tracht eines alten Türken aufführte. Zum Kostüm gehörte ein riesiges Gewehr, aus dem er zur Krönung am Ende der Aufführung und unter Gejohle der Segler einen Schuss abgab. "Ja er lebt noch. Und ich bin mit seinem Sohn befreundet." Ist doch schön, wenn man gemeinsame Bekannte hat.
Wir lassen Kas¸ hinter uns und durchstreifen den Kekova Golf. Hüseyin schafft das Kunststück, dass wir ruhige Ankerplätze finden, die tagsüber zwar von Ausflugsbooten angelaufen werden, um ihre Pas-sagiere ins "Freibad" oder zum Picknick in die Strandkneipe bringen. Aber am Abend wird es ruhig. Immer liegen wir ruhig. Ungestört können wir ausgiebig Mittagessen und der Golf bietet uns reichlich Gelegenheit zum sightseeing. In langsamer Fahrt schrammen wir am Ufer entlang, um die versunkene Stadt zu finden, eine der faszinie-rendsten Unter- und Überwasserlandschaften an der ganzen Küste. Hüseyin ankert vor der Burg und entlässt uns zum Gipfelsturm.
"Kleine Mädchen werden Sie hinauf zur Burg führen, vielleicht um Ihnen etwas zu verkaufen oder ein Trinkgeld zu erhaschen", zitiere ich aus dem Yachtführer. "Das ist doch passé" lästert Hannelore. "Der Yachtführer ist veraltet und die kleinen Mädchen von damals sind jetzt 40 Jahre alt." "Wir werden sehen".
Mädchen waren tatsächlich da, um uns den Weg hinauf zur Burg zu weisen. Aber das waren versierte Verkäuferinnen und keine Unschuldslämmer wie damals, die sich stolz zum Ferienfoto aufstellten. Und der ganze Weg hinauf glich einer einzigen Shopping Mall mit Verkaufsständchen und Händlern, die alle Tourismussprachen der Welt, inzwischen auch Russisch, beherrschen, um ihre Waren anzupreisen. Alles, was der Tourist unbedingt braucht im Angebot: Die blauen türkischen runden Steine gegen den Bösen Blick, Freundschaftsbändchen, Tücher, Süßigkeiten. Ich bin froh, dass ich unten gleich eine Verkaufsmaid angeheuert habe. "Hier hinauf, bitteschön".
Zielstrebig hat sie, die uns jetzt führt, in uns eine enorme Einnahmequelle entdeckt. Ihr Tagesumsatz dürfte gesichert sein. So weit ist es aber noch nicht. Zunächst dient sie mir als Schutzschild gegen die anderen Händler, weil ich doch offensichtlich schon vergeben bin. Oben angekommen findet sich ein Kassenhäuschen und elektroni-sche Schranken. Wehe dem, der jetzt kein Geld mitgenommen hat (das nur als Tipp für Yachties). Ich habe Geld dabei und kaufe 6 Tickets. Wir erklimmen den Rest des Hügels und genießen die Aus-sicht, die zauberhaft schön ist. Blaues Meer, blauer Himmel, weiße Schönwetterwölkchen und braune Sommerberge mit verstreuten lykischen Gräbern.
Das Bild mit den türkischen Mädchen auf der Burg konnte ich leider nicht nachstellen. Dafür tanzten erstens zu viele Touristen vor der Linse herum und zweitens durfte unsere Jungverkäuferin nicht mit hinauf. Vor den elektronischen Barrieren musste sie warten. Als wir zurückkommen ist sie immer noch da. Wir kaufen ihr ein paar Tücher ab und ich glaube, dass sie mit ihrem Umsatz, den sie als eine Art Bergelohn in Empfang nahm, ganz zufrieden war.
Wir liegen mit unserem Motorsegler gemütlich im zauberhaften Golf von Gökkaya und ich liege in der Koje, um einen kleinen Mittagsschlaf zu halten. Das Essen von Erkan war wieder einmal zu köstlich, zu reichlich und einfach unwiderstehlich. Außerdem bin ich es nicht gewohnt zum Mittagessen, zumal in der türkischen Mittagshitze, Wein zu trinken. Mir hilft da nur ein kleines Verdauungskoma. Kaum bin ich ein wenig weggesunken, beginnt eine Art Wachtraum. Der Traum handelt von Russen. Ich träume von russischer Musik, von Rednern, ein Parteitag vielleicht. Putin ist dauernd in den Nachrichten, das ist vielleicht der Grund für diese Traumszene. Die Musik wird immer lauter, ein großes Orchester spielt, Chöre, heftiger Rhythmus. Tschaikowsky ist das nicht. Sondern sehr agitatorisch, laut aggressiv, nein eigentlich ist es Russenpop. Ein Redner ergreift jetzt das Wort. Laut, aggressiv und agitatorisch spricht er durch ein Megaphon. Das ist Lenin! Jetzt schreit er etwas von unseren sowjetischen Freunden, da schrecke ich hoch.
Ein lauter Schrei aus mindestens 5 deutschen Seglerhälsen, lässt mich hochfahren. Das Wort R U H E mit mindestens 12 Ausrufezei-hen wird von unserem Schiff über die idyllische Bucht gebrüllt. Mo-mentan tritt Stille ein. Ein Badeschiff, von unten bis oben voll mit russischen Touristen, ist eingelaufen. Hannelore deutet mit gestrecktem Arm und nach unten gesenktem Daumen zum gegnerischen Kapitän hinüber. Das wirkt! Das wirkt sogar so gut, dass das folgende Schwesterschiff fast lautlos einläuft und ankert. "Das musst du unbedingt dem Udo schreiben". Was ich hiermit getan habe.
Myra steht auf unserem Ausflugsprogramm, wir haben mit Gökkaya den perfekten Ausgangspunkt erreicht. Unser Kaptan besorgt aus dem nahen Demre einen Fahrer und wieder erhalten wir einen klima-tisierten Minibus. Welcher Unterschied im Komfort zu unserer Reise damals. Es gab noch keine Handies, aber auch noch keinen Massentourismus.
Viel vorbereiten mussten wir nicht. Den lykischen Bund haben wir schon durchgenommen und wie ein schönes Theater aussieht, wissen wir auch schon. Einzig die Felsnekropolen dürfen wir nicht übersehen und die schönen Steinmasken.
Wer nach Myra geht, muss sich auch mit dem Nikolaus auseinandersetzen, dem Urvater unseres Weihnachtsmanns. Dieser Nikolaus war hier Bischof und bizarre Geschichten ranken sich um ihn, inklusive der von den Reliquienräubern aus Bari. Gespannt lauscht die Crew dem Podcast, den Udo mir dazu geschickt hat.
Frohgemut starten wir in den frühen Morgen. Ein Fischerbötchen holt uns an der SHER M ab, wir setzen über, finden unseren Bus und los geht es. Wieder heißt es "das musst du dem Udo schreiben, das weiß er be-stimmt noch nicht, oder so nicht." Gut, mache ich.
Ich hatte in Erinnerung, dass die Ruinen von Myra weit außerhalb auf weitem Feld lagen. Nicht so heute. Das Theater liegt praktisch im Stadtgebiet von Demre und ist zu einem Freilichtmuseum geworden mit Touristenläden, Museumsshop und Cafés. Alles sehr professio-nell, die Steine, über die wir damals noch geklettert sind, sind orden-tlich aufgeschichtet und ohne Mühe zu besichtigen. Alles sehr profes-sionell und schön, aber eben auch ein wenig gelackt. Wir waren früh dran und hatten das Theater ganz für uns. Insofern war das eine positive Erfahrung.
Die faustdicke Überraschung kam an der Nikolauskirche. Diesmal waren wir beim besten Willen nicht allein. Zeitgleich mit uns landet ein Tourbus mit 50 Touristen. Russen! Gemeinsam stehen wir mit ihnen in der Schlange, um in die Basilika mit ihren schönen Fresken und Mosaiken hineinzukommen. Im 5 Minutentakt kommen weitere Busse. Eine wahre Schwemme! Ich schätze, dass sich gut 300 Menschen durch diese Kirche drängen. Für die Russen ist das ein Wall-fahrtsort, der im Einzugsgebiet von Kemer mit seinen Russenburgen liegt. Ein bestimmter Raum wird voll mit Russen in Beschlag genommen. Dort wird gebetet. Frauen stehen Schlange, teilweise haben sie wilde T-Shirts an – tragen aber aus religiösen Gründen weiße Kopftücher. Diese Kirche ist zum türkischen Lourdes für die Russen geworden. Hier zumindest ist es nicht mehr still, türkisch und romantisch.
Fazit
Ich schreibe diesen Bericht an Bord der SHER M während wir uns gemütlich segelnd mit der Fock an den Endpunkt einer wunderschönen Reise ziehen lassen. Gleich landen wir in Sichtweite der Göcek Marina. Die letzten Tage haben wir hier im Archipel zugebracht und viele Buchten wieder besucht, die wir von früheren Törns kannten.
Den Höhepunkt erlebten wir heute. Wir lagen vor Erol Simavis Insel und ließen die Gedanken schweifen. Hier waren wir mit Wolfgang im Jahr 1976 zu Gast bei Simavi. Unglaublich schön! Ich hätte nicht gedacht, dass wir noch einmal hierher kommen würden.
Am Ende landen wir mit einer gut gelaunten und erholten Crew. Wenn ich überlege, dass einige von ihnen dieser Reise sehr reserviert und skeptisch gegenüber standen – haben wir doch ein schönes Erfolgserlebnis zu vermelden.
"Was war denn jetzt am Schönsten?" Heidi bringt es auf den Punkt: "Alles zusammen, das Boot, die Mannschaft, die Landschaft und die Ausflüge." Und ich sage es mal mit meinem Gastarbeitertürkisch: "Biz geri olacak."
Göcek, 12.9.2014 Gerhard Schimpf