Tag 1 unserer Blauen Reise:
Ankunft an Bord unserer Gulet
Dreieinhalb Stunden Flug, Ankunft in Dalaman Flughafen, kaum Verspätung, schnelle Abfertigung - ein guter Anfang! Ein braungebrannter Mensch mit Schnurrbart und dunklen Augen hält ein Schild mit unseren Nachnamen und dem Namen unserer Gulet. Wir brauchen ihm nur bis zum Minibus zu folgen, und schon geht die Fahrt los nach Marmaris.
Nach dem kühlen Herbstregenwetter in Deutschland ist es kaum zu glauben, dass hier noch prachtvoller Sommer ist! Die Charter-Agentur hatte uns zwar versichert, dass diese Jahreszeit ideal, das Wetter warm, aber nicht mehr unerträglich heiss, und die Wassertemperatur vom Sommer aufgewärmt mit etwa 26 Grad am höchsten sei. Aber man weiss ja nie - vielleicht hatten sie auch einfach zu dieser Zeit noch die meisten Schiffe frei?! Dass es in der Nachsaison weniger voll ist als in der Hauptsaison, das leuchtet natürlich ein. Glücklich, wer nicht an Schulferien gebunden ist...
Die Strecke nach Marmaris ist ausgesprochen schön. Trotz der monatelangen Trockenheit sprudelt überall an den Strassenrändern Wasser aus grossen "Duschen", unter die man sein Auto fahren kann. Auf den griechischen Inseln sind die Berge im Sommer sonnenverbrannt braun, hier sind sie dicht mit Pinienwäldern bewachsen. Nach einer relativ langen kurvigen Strecke durch Pinienwald hält der Fahrer, sagt "Marmaris, look!" und bedeutet uns auszusteigen. Der Ausblick hinunter auf die unglaublich blaue Bucht und die weissen Häuser der Stadt ist tatsächlich atemberaubend. Eine Viertelstunde später stehen wir bereits vor unserer Gulet. Wir verabschieden uns vom Fahrer und lassen uns über eine ziemlich wacklige Gangway von der Besatzung an Bord helfen.
Es geht sofort los: Bereits um ca. 16 Uhr legen wir bei schönstem Wetter ab und fahren unter Motor etwa 3 Stunden in die benachbarte einsame Celebi-Bucht westlich von Bodrum, wo wir für die Nacht ankern. Der erste Abend verläuft gleich super gut mit Schwimmen im kristallklarem, warmen Wasser und ausgiebigem, gemeinsamem Dinner auf dem Achterdeck. Ein paar Männer schlafen lieber an Deck unter dem Sternenhimmel im mitgebrachten Schlafsack.
Sofort werden wir an den mächtigen Tisch genötigt, um mit Käpt'n (auf türkisch: Kaptan) Mustafa den "Welcome-Drink" einzunehmen. Er stellt uns den Rest der Besatzung vor: Der Koch heisst Hüseyin und der Matrose heisst Abdullah, kurz Apo genannt. In ziemlich passablem Englisch erklärt uns der Kaptan, worauf wir beim Leben an Bord so zu achten haben. Klaus schaut gelangweilt, weil er diese Sachen sowieso alle kennt, aber wir übrigen hören aufmerksam zu, denn für uns ist das schliesslich alles Neuland. Besonders meine Eltern, die Boote nur von einer Überfahrt nach England kennen, hören mit leicht besorgtem Blick zu, um später auch ja nichts falsch zu machen.
Als erstes lernen wir, dass Strassenschuhe vor dem Betreten des Schiffsdecks ausgezogen und in eine extra dafür bereitstehende Kiste getan werden. Ein Schwachpunkt von Schiffen scheinen die Toiletten zu sein, jedenfalls wird uns eingeschärft, bloss kein Papier oder sonst irgendwas in die Kloschüssel zu werfen, wenn uns unser funktionierendes Klo lieb ist... Dann lässt der Kaptan uns noch wissen, dass wir zwar gerne unsere Meinung zur Programmgestaltung sagen und auch demokratisch darüber abstimmen können, aber dass trotzdem er die Entscheidung alleine fällt. - Na, das kann ja heiter werden!!! Als Klaus meinen empörten Blick sieht, beschwichtigt er mich schnell: auf einem Boot hat eben nur einer das Sagen, und das ist der Kapitän. Auch wenn es im Moment nicht so aussieht, kann es auch vor der türkischen Küste Starkwind, heftige Wellen und vertrackte Strömungen geben. Und wenn es für die Sicherheit von Schiff und Passagieren notwendig ist, kann der Kapitän das Programm jederzeit ändern. - Na gut, das sehe ich ein...
Aber jetzt fragt er ganz freundlich, ob wir heute noch in Marmaris im Hafen bleiben oder lieber in einer Bucht übernachten wollen. Wir brauchen nicht lange abzustimmen - alle können es kaum erwarten, den Hafen zu verlassen! Wir erfahren, dass die Einkäufe bereits gemacht sind. Also brauchen wir nur noch unsere Pässe abzugeben, damit die Formalitäten erledigt werden. In der Zwischenzeit lassen wir uns unsere Kabinen zeigen. Dass jeder seine eigene Dusche mit WC haben würde, wussten wir ja schon, aber dass es sich um so grosse und komfortable Unterkünfte handelt, damit hatte ich nicht gerechnet! Und so gemütlich - alles aus Holz!
Meiner Schwester Beate und ihrem Mann überlassen wir die grösste Kabine, denn sie werden sicher ab und zu Besuch von Tochter Anna bekommen. Eigentlich soll die Dreijährige mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Alex eine Kabine teilen, aber ob das klappt? Ich habe ehrlich gesagt meine Bedenken, was die Kinder betrifft. Werden sie sich nicht langweilen an Bord? Beate glaubt, das wird überhaupt kein Problem, aber ich habe keinen Nerv darauf, ständig aufzupassen, ob Anna ins Wasser gefallen ist oder Alex irgendwelche Dummheiten macht. Das müssen schon Beate und Stefan machen. Klaus und ich haben eine kleinere Kabine genommen, denn wir wollen ja sowieso am liebsten an Deck schlafen. Und meine Eltern haben wir so weit entfernt wie möglich von eventuell schreienden Kindern einquartiert. Gerade haben wir unsere Sachen in den Schränken verstaut, da brummt bereits der Motor. Was - so schnell geht es los?
Wie auf Kommando versammeln wir uns alle an Deck und trauen unseren Augen kaum: schon werden die Leinen am Kai losgemacht und eingeholt, die Gangway hochgezogen. Klaus ist schon am Bug, um zu begutachten, wie mit der elektrischen Winsch der Anker hochgezogen wird. Auf seiner kleinen Jolle muss er sowas natürlich von Hand machen. Dann gleiten wir an den Nachbarbooten vorbei in Richtung Bucht. Ich setze mich mit Mutter zusammen auf die breite Sitzfläche am Heck, und wir schauen uns ein wenig ungläubig an: sind das wirklich wir, die da auf einem prächtigen Holzsegler bei mildem Sommerwetter ins Mittelmeer hinaustuckern...
Kaptan Mustafa nimmt Kurs auf die schmale Öffnung der fast geschlossenen Marmaris-Bucht. Wir sind beschäftigt mit Ausblicken nach allen Seiten. Plötzlich stehen Tee und Kekse auf dem Tisch. Wir stürzen uns darauf, als hätten wir tagelang nichts gegessen. Kaum sind wir fertig, biegt unser Schiff schon nach rechts in eine grosse, fast kreisförmige Bucht ein. Ein paar Gulets und Yachten liegen dort schon vor Anker, aber es ist genug Platz für alle da. Rückwärts docken wir an einem Felsvorsprung an, an dem wir die Nacht verbringen werden. Apo springt ins Wasser und schwimmt zu den Felsen, um das Boot dort festzumachen. Dann sind wir dran. Dass Wasser wirklich diese türkisblaue Farbe hat! Es ist so klar, dass man jeden größeren Fisch schon in mindestens 50 m Entfernung sehen würde.
Alex verkündet, er werde nicht ins Wasser gehen, nachdem ich nebenbei das Reizwort "Hai" hingeworfen habe. Dabei gibt's hier doch gar keine ! Beate guckt mich genervt an. Um zu zeigen, wie mutig sie sind, springen die Männer gleich vom Deck aus ins Wasser. Ich nehme lieber die Leiter. Schliesslich planschen wir alle in dem wohltemperierten Bilderbuchwasser, sogar Anna mit Schwimmflügeln. Nur Alex bleibt eisern. Erst als der Kaptan versichert, dass es an der türkischen Ägäisküste in seiner Zeit keine Zusammenstöße zwischen Haien und Menschen gegeben hat, beruhigt er sich.
Die Sonne versinkt, wir klettern zurück an Bord, duschen uns (kurz bitte, die Wasserreserven sind begrenzt!) unter der praktischen Decksdusche und haben endlich Zeit, einfach nur dazusitzen und dem sanften Schaukeln unseres Bootes nachzuspüren. Alex hat sich schon mit Apo angefreundet - Alex spricht deutsch, Apo antwortet auf türkisch - und lernt, wie man mit kleinen Brotklümpchen angelt.
Hüseyin serviert uns das türkische Nationalgetränk, den Anisschnaps Raki. Dazu gibt's Oliven, Feta-Käse, Honigmelone - ein absoluter Genuss! Wir stossen auf den guten Anfang unserer Blauen Reise an. Nach einem leckeren Abendessen sind wir alle rechtschaffen müde und jeder zieht sich zurück. Klaus und ich packen unsere Schlafsäcke aus und legen uns auf die Matratzen auf dem Vorderdeck. Diese Stille! Man hört noch entferntes Lachen von einem anderen Boot, ansonsten nur das leise Platschen des Wassers am Bug. Und dunkel ist es! Kein künstliches Licht bis auf die paar Funkellampen an den Mastspitzen, auch kein Mond. Dafür helle Sterne mehr als genug! Bevor ich noch meine spärlichen Kenntnisse über Sternbilder anwenden kann, bin ich schon eingeschlafen...
2. Tag:
Ausflug nach Dalyan/Kaunos
Wir erwachen vom Klicken der Ankerkette. Es ist dämmrig, kurz vor Sonnenaufgang. Wie ein Geisterschiff gleitet unser Boot in Richtung Buchtmitte. Das Wasser ist spiegelglatt und die Luft absolut windstill. Jetzt erinnere ich mich: Kaptan Mustafa hatte angekündigt, sehr früh in Richtung Dalyan aufbrechen zu wollen, damit wir nach dem Frühstück gleich mit der Besichtigung anfangen können. Beruhigt lege ich mich wieder hin und lasse mich vom monotonen Motorengebrumm wieder einschläfern... Als Klaus mich weckt, steht die Sonne hoch am Himmel. Herr Frühaufsteher ist natürlich schon seit unserer Abfahrt auf den Beinen und hat sich vom Kaptan alles erklären lassen. Sogar das Steuer hat er ihm abgeschwatzt! Vom Segelsetzen konnte man ihn sicher nur mit Mühe abhalten, doch selbst ein begeisterter Segler wie Klaus muss einsehen, dass bei absoluter Windstille nichts zu machen ist.
Wenig später machen wir vor einer kleinen Felsinsel mit einem riesigen Loch darin fest.
Während wir frühstücken, schreit Alex plötzlich auf: "Da schwimmt was!" Tatsächlich, jetzt sehen wir es alle: ein grosses, dunkles, eiförmiges Etwas. Es taucht neben uns auf - der Kopf einer Riesenschildkröte! Sie scheint sich einmal umzuschauen, dann taucht sie wieder unter und paddelt davon. "Das war eine Caretta Caretta" belehrt uns Mustafa Kaptan. "Diese Meerschildkröten kommen im Sommer an den Strand von Dalyan, um ihre Eier abzulegen. Hier ist einer der letzten Strände im Mittelmeer, wo das möglich ist. Strenge Auflagen verhindern, dass auch dieser Strand mit Hotels zugebaut wird." Wenn man die Population der Türkei bedenkt und die starke Bautätigkeit, die wir beim Verlassen der Marmaris-Bucht beobachten konnten, dann ist das eine beachtliche Leistung - geradezu EU-reif...
Kurz nach dem Frühstück legt ein kleines Boot mit ziemlich laut tuckerndem Motor neben uns an. Es ist unser Ausflugsboot für das Dalyan-Delta und die antike Stadt Kaunos. Wir sind beeindruckt vom Organisationstalent unseres Kaptan, auch wenn im Zeitalter der Handy-Kommunikation nicht viel Zauberei dazugehört.
Ich will hier nicht alle Einzelheiten erzählen, nur soviel: Dalyan ist überwältigend schön! Für jeden war etwas dabei: Alex und Anna waren begeistert vom Schwefelbad, wo wir uns gegenseitig mit dem Heilschlamm einschmierten. Mutter war von dem Schwefelgeruch nicht so angetan, aber als sie hörte, dass sogar Schönheitsköniginnen extra wegen des hautverjüngenden Effekts hierherkommen, siegte die Eitelkeit. Stefan, der antike Steine und kleine Klettertouren liebt, kam in der Ruinenstadt Kaunos auf seine Kosten. Er war nicht davon abzuhalten, bis auf den Akropolisberg hinaufzusteigen, und Klaus und er wurden danach nicht müde, uns vorzuschwärmen, was für eine grossartige Aussicht auf das Delta wir verpasst hätten. Vater mochte den Fisch (Meeräsche), der uns mittags auf einer Terrassenplattform auf dem Wasser serviert wurde. Wir alle waren beeindruckt von der Aussicht auf die prächtigen Felsgräber, die vor mehr als 2000 Jahren in die senkrecht abfallenden Felswände gehauen wurden. Und ich habe doch tatsächlich auf der Rückfahrt durch das Schilflabyrinth ein Eisvogelpärchen gesehen! Ich bin immer noch hin und weg...
Unser Bötchenfahrer hat Hüseyin einen ziemlich grossen Sack mitgebracht, der uns zum Abendessen als Überraschung aufgetischt wird: Blaue Krebse aus dem Dalyan-Delta, dazu hausgemachte Mayonnaise! Mein Gott - sind wir hier im 3-Sterne-Restaurant? Was ich besonders nett fand: für Alex und Anna, die noch nichts für solche Delikatessen übrig haben, gibt es Würstchen und Pommes frites als Kindermenü.
Durch das Loch in unserer Insel scheint eine hauchdünne Mondsichel - wunderschön! Bei einem Glas Wein lassen wir diesen schönen Tag ausklingen...
3. Tag:
Segeln, segeln...
Ich merke meinem Klaus schon seit gestern leichte Ungeduld an: er will endlich sehen, ob unsere behäbige Gulet wirklich segeln kann wie im Katalog beschrieben. Gleich beim Frühstück platzt er damit heraus. Kaptan Mustafa erwidert, dass der thermische Wind - Meltemi - der in diesen Breiten den ganzen Sommer über ab dem späten Vormittag weht, um diese Jahreszeit schon nicht mehr ganz zuverlässig bläst. Aber er hätte für heute kein grosses Programm geplant, insofern könnten wir den Vormittag in der nahen Ekincik-Bucht verbringen und es nach einem leichten Mittagessen mit Segelsetzen versuchen. So tuckern wir in fünfzehn Minuten in eine weite, grüne, von hohen Bergen gerahmte Bucht.
Ich muss sagen, diese Art des Reisens gefällt mir! Die Verantwortung für Dinge wie technische Ausrüstung, Proviant oder die genaue Route mag ich gern abgeben, aber dass einem nicht alle Entscheidungen aus der Hand genommen werden, dass es keine festen Abfahrtszeiten und kein Programm gibt, auf das man festgelegt ist, finde ich höchst angenehm. So vergeht unser Vormittag mit der Entdeckung des Faulseins...
Tatsächlich ist der Wind ziemlich aufgefrischt, als wir gegen halb zwei aus der Bucht aufs offene Meer hinausmotoren. Und jetzt wird es ernst!!! Erst müssen den Kindern Schwimmwesten angezogen werden, und wir werden aufgefordert, alle Handtücher und was sonst noch so wegfliegen könnte, in unseren Kabinen zu verstauen. Apo und Hüseyin verschliessen die Schränke und Bullaugen - sollte diese Gulet tatsächlich so krängen, dass das nötig ist? - und wir werden auf die Plätze an Deck dirigiert, wo wir beim Segelsetzen nicht stören. Selbst Klaus, der schon lange die gesamte Takelage inspiziert hat, schaut erstmal zu. Die Mannschaft setzt erst das Großsegel, bringt das Boot auf Kurs und öffnet dann die Rollfock. Die Gulet krängt leicht nach links, schon wird der Motor gestoppt, und wir gleiten wie ein stolzer Schwan durch die tiefblaue See! "4-5 Knoten" schätzt Klaus nach einem fachmännischen Blick auf die Heckwelle. Das ist zwar langsamer als mit Motor, dafür aber tausendmal erhebender!
Während die anderen es sich im Schatten der Segel auf dem Vorderdeck bequem machen, hören Klaus und ich uns im Cockpit Mustafa Kaptans Segelerfahrungen an. Er ist anscheinend ein erfahrener Segler und hat Spass an Klaus' Interesse. Er läd uns ein, im Oktober nach Bodrum zu kommen, um am Bodrum's Cup teilzunehmen, einer Segelregatta, wo nur traditionelle Gulets gegeneinander antreten und wo auch unsere Gulet mit von der Partie sein wird. Selbst wenn diese Riesen es an Wendigkeit nicht mit modernen Segelyachten aufnehmen können, bei der Schnelligkeit können sie kräftig mithalten, denn "Länge läuft!" weiß Klaus, und länger als normale Yachten sind die Gulets allemal. Der Anblick muss jedenfalls majestätisch sein: Auf einen Schlag zwischen 70 und 100 dieser wunderschönen Schiffe mit ihren riesigen Segelflächen!
Der Kaptan drückt Klaus das Steuerrad in die Hand. Nach ein paar Schlenkern hat er sich an die verspätete Reaktion der Gulet gewöhnt, hält den Kurs - und ist glücklich! Die kräftige Nordwestbrise füllt die Segel, der Geschwindigkeitsmesser zeigt 7 Knoten (!) und ich geniesse es, nichts anderes als den Wind in den Segeln und das Gurgeln der Wellen zu hören...
So erreichen wir ohne Zwischenfälle die Einfahrt in den Golf von Fethiye, wo der Kaptan wieder seinen Platz einnimmt, Klaus beim Bergen der Segel hilft und wir in unsere abendliche Ankerbucht einlaufen.
Wie Hüseyin es in der Zwischenzeit nur geschafft hat, dieses fantastische Abendessen zu kochen! Das Gericht, das wir in Deutschland ähnlich unter dem Namen "Falscher Hase" kennen, nennt er - passend zu unserem heutigen Ausgangsort - Dalyan Köfte, (Köfte = Frikadellen). Der grosse Tisch im Heck unserer Gulet ist unser geliebter Versammlungsplatz geworden, an dem wir nach dem Essen noch mit den Kindern Uno und später ohne Kinder Scrabble spielen.
Dann wieder eine Nacht unter Sternen...
4. Tag:
Reise in die Geschichte
Schon vor dem Frühstück ein kühles Bad - aaaahh! Auch Alex ist inzwischen von seiner Haiphobie geheilt und paddelt kräftig mit. Nach dem Frühstück Aufbruch gen Süden. Wir alle hatten auf Postern und Türkeireklamen den Bilderbuchstrand Ölüdeniz gesehen und freuten uns darauf, ihn heute zu sehen, aber Mustafa Kaptan winkt ab.
Die Einfahrt in die fast geschlossene Lagune ist für Gulets, Yachten und andere Boote untersagt und die Schönheit des Strandes erschliesse sich eher aus der Vogelperspektive, nicht so sehr Liegestuhl an Liegestuhl. Er habe dafür einiges andere Interessante anzubieten. So beschliessen wir, auf einen Besuch in Ölüdeniz zu verzichten und uns statt dessen auf der 'Nikolausinsel' umzusehen und einen Ausflug in die Geisterstadt Kayaköy zu unternehmen.
Entlang felsiger Küstenformationen mit nahezu unwirklich türkisfarbenem Wasser fahren wir, diesmal unter Motor, bis zur 'Gemile'-Insel (so der heutige türkische Name), wo wir inmitten von antiken Hafenanlagen festmachen. Der immer unternehmungslustige Stefan zieht mit Alex los, um die byzantinischen Kirchen auf dem Bergkamm zu erkunden, von denen zwei durch einen Tunnel miteinander verbunden sein sollen. Die übrigen üben die hohe Kunst des Nichtstuns, nur ich schaue voller Neugier unserem Koch über die Schulter. Bei Ankunft in Gemile hat er einem Fischer, der sich mit seinem Boot näherte, einen grossen Fisch abgekauft. Der Handel war mit viel Gestikulieren und Erheben der Stimmen auf beiden Seiten verbunden, aber schliesslich machten beide einen durchaus zufriedenen Eindruck.
Nun möchte ich wissen, was er mit dem - unter uns gesagt ziemlich hässlichen - "Untier" anstellt. Zunächst wird Apo an Land auf einen Felsen geschickt, um das Tier zu entschuppen und auszunehmen. In der Zwischenzeit schneidet Hüseyin Gemüse in grosse Stücke - Zwiebeln, grüne Paprika und Tomaten. Den Fisch habe ich auf dem Poster im Schiffssalon, das alle Mittelmeerfischarten abbildet, als Riesenbarsch identifiziert. Auch der Riesenbarsch wird in grosse Stücke zerteilt, in ein tiefes Blech auf ein Bett aus Zwiebelringen gelegt, mit dem Gemüse umkränzt, mit viel Petersilie und schwarzen Oliven dekoriert und mit Mengen von Zitronensaft, Salz, Pfeffer, Olivenöl und Lorbeerblättern gewürzt. Und nun das Ganze in den Ofen...
Als vom Festmahl nur noch die Gräten übrig sind, schickt uns Mustafa Kaptan mit einer eigenhändig gezeichneten Karte an Land, das sagenumwobene 'Kayaköy' zu finden. Die traurige Geschichte des einst von nahezu 10.000 Anatoliengriechen bewohnten Ortes hat er uns so eindrucksvoll ausgemalt, dass wir alle höchst gespannt sind. Alex findet das mit der Karte so spannend, als ginge es auf eine Schatzsuche!
Nach ziemlich steilem Anstieg auf gut erkennbarem Pfad erreichen wir die Passhöhe mit einer als Stall genutzten Kapelle, die bereits vom Schiff aus gut sichtbar war. Und da liegt die Stadt schon vor uns: an den meerabgewandten Berghang geschmiegt hunderte von Steinhäusern mit leeren Fensterlöchern, verfallenen Dächern und zwei grossen Kirchen - ein ergreifender, auch etwas bedrückender Anblick! Weiter unten in der Ebene das neue Kayaköy, ein winziges Dorf verglichen mit der einstigen Stadt. Bis 1923 - dem Jahr des grossen Bevölkerungsaustausches zwischen Griechenland und der neu entstandenen Republik Türkei - lebten die Ethnien hier friedlich nebeneinander. Die zwangsangesiedelten neuen Bewohner wussten mit der wasserarmen Hanglage nichts anzufangen und verliessen nach und nach den Ort, der seltsam entrückt und melancholisch zurückgeblieben ist.
Den ganzen Abend diskutieren wir mit Mustafa über die Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland und erfahren von ihm ganz neue Blickwinkel.
5. Tag:
Landgang
Nach so vielen Tagen in einsamen Buchten müssen wir - auch wenn es uns gar nicht nach Autogehupe und Menschenansammlungen drängt - einen Hafen aufsuchen, um Wasservorräte und Proviant aufzufüllen. So geht es schon am frühen Morgen in Richtung Fethiye.
Die ziemlich grosse Stadt liegt malerisch in einem tiefen Golf, und schon von weitem sieht man ein ähnliches Felsgrab wie in Dalyan. "Hier sind wir im antiken Lykien", doziert Stefan. Auf seinen Wunsch wird heute ein Landausflug zu den wichtigsten antiken Stätten Lykiens - nach Xanthos, Patara und Pinara - gemacht. Beate findet, dass das für die Kinder zu anstrengend ist - ich glaube eher, sie hat selbst nicht so grosse Lust auf alte Steine und möchte lieber mal in Ruhe durch den Basar schlendern). Ich habe beschlossen, Koch Hüseyin beim Einkaufen zu begleiten, denn mich interessiert das ganz normale Leben der Leute, die heute hier leben, mehr als die Überbleibsel von lange verschwundenen Kulturen. Ausserdem haben Klaus und ich einen Plan für's nächste Jahr: die türkische Küste gefällt uns so gut, dass wir wiederkommen wollen, aber dann als Selbstsegler auf einer gecharterten Yacht!
Wir haben Glück - heute ist Wochenmarkt! Ein Fest für alle Sinne! Dorffrauen mit Pumphosen und hausgemachtem Yoghurt, lebende Hühner, Enten und Küken, knallig grüne Kräuter und Salate, und diese Früchte! Insgesamt bestimmt zehn verschiedene Sorten Weintrauben und Wassermelonen, doppelt so gross wie Fussbälle! Es macht Spass, mit Hüseyin unterwegs zu sein. Er hat seine Stammhändler, die ihn freudig begrüssen, das Schleppen der Einkäufe besorgt ein Träger mit einem Handwagen, ich werde überall freundlich und respektvoll angelächelt und lächle, da ich ausser "merhaba" (Guten Tag) nichts sagen kann, freundlich zurück.
Innerhalb einer Stunde werden wir mindestens dreimal zum Tee eingeladen. Beim Metzger gibt es einen längeren Aufenthalt, während dessen ich Zeit habe, alles ausgiebig zu begutachten. Im Schaufenster hängen mehrere ganze Lämmer. Eines wird halbiert und für uns zubereitet. Der Meister haut mit einem Holzhammer auf die Rippchen - oh, das werden die leckeren Lammkoteletts! Drei Alte kratzen an Kalbsknochen säuberlich die letzten Reste Fleisch ab. Einer bearbeitet einen Kalbskopf und zerlegt ihn in seine brauchbaren Teile. Mir wird bewusst, dass wir in Deutschland gar nicht mehr wissen, wo das Fleisch, das so schön zugeschnitten in der Vitrine liegt, überhaupt herkommt.
Schliesslich geht es noch in den Supermarkt, der, was Grösse, Atmosphäre und Angebot angeht, mit einem deutschen in etwa vergleichbar ist. Nur das Schweinefleisch fehlt natürlich.
Am Nachmittag gehe ich mit Beate und den Kindern nochmal in die Stadt - diesmal als Touristin! Kleidung ist supergünstig - sehr schöne Sachen für die Kinder, und dann natürlich die gefälschten Boss-, Lacoste- und Calvin Klein T-Shirts. Neben der Massenware gibt es aber auch sehr individuelle Boutiquen mit guter Qualität. Da unser Zielhafen Göcek nur sehr klein ist, kaufen wir unsere Souvenirs hier. Wir finden beide, dass es sich mit der Aufdringlichkeit der Händler in Grenzen hält. Im allgemeinen wird man in Ruhe gelassen, was ich nach anderen Erfahrungen in orientalischen Ländern sehr angenehm finde.
Nach Einkehr in einem Café direkt am Wasser mit Eis für die Kinder und türkischem Kaffee für uns kehren wir von unserem "Landausflug" zurück an Bord. Nur wenig später kommen auch unsere Ausflügler sehr begeistert und ziemlich erschöpft zurück.
Zum Abendessen gibt es die frischen Lammkoteletts! Danach nehmen Beate, Stefan, Klaus und ich uns "frei" - es ist ja wirklich nett so alle miteinander, aber einen Abend zu viert und ohne Kinder das Nachtleben von Fethiye erkunden, das ist ein schöner Ausgleich zum Familienleben.
6. und 7. Tag:
Der Golf von Fethiye und die Entdeckung des Müßiggangs
Nachdem auf unserer Blauen Reise eigentlich ständig was los war, haben wir nun noch zwei Tage Entspannung pur! Der Golf von Fethiye, "das Revier der Reviere" genannt, erwartet uns. Hier eine schöne Bucht, da eine noch schönere, hier der bessere Schnorchelgrund, aber dort stehen die Pinien noch dichter am Ufer - Essen, Schlafen, Lesen, Tee trinken, Bier trinken, Raki trinken, Spielen, Gelächter, Schwimmen, Fischen, kleine Wanderungen - wir sind wunschlos glücklich ohne Programm. Selbst Klaus kommt nochmal auf seine Kosten, als wir an einem Nachmittag alle Segel setzen, um ohne Eile von irgendwo nach irgendwo zu gelangen.
Sicher - hätten wir die ganze Zeit nur herumgefaulenzt, wäre ich vielleicht nicht so glücklich, aber die zwei Tage Nichtstun hatten wir uns wirklich verdient!
Jetzt, während wir uns der Marina von Göcek nähern, wo wir unsere letzte Nacht an Bord verbringen werden, tauschen wir unsere Eindrücke aus. Stefan sagt, ihm wäre nicht so klar gewesen, wie grosse kulturelle und historische Schätze aus ganz unterschiedlichen Epochen die Türkei in einem so kleinen Abschnitt zu bieten hat. Vater hat es vor allem die Landschaft, die Schönheit der Buchten, die Klarheit des Wassers und das angenehme Klima angetan. Wenn ich mir vorstelle, wie heiss es hier im Juli sein muss, wenn es Ende September noch so schön ist, bin ich sehr froh, dass wir uns für diese Jahreszeit entschieden haben. Mutter sagt, sie hätte nie gedacht, dass es ihr an Bord eines Schiffes so gut gefällt. Nicht jeden Tag die Koffer packen müssen, um an einen neuen Ort zu kommen, direkt von Bord im schönsten, saubersten Wasser schwimmen gehen zu können, das sei für sie beste Erholung gewesen. Beate ist hingerissen von der Kinderfreundlichkeit der Crew. Sie kann sich an keinen Urlaub erinnern, wo sie sich so wenig über ihre Kinder ärgern brauchte. Ständig hat Apo sich um Alex gekümmert und ihm irgendwelche Dinge beigebracht, die ein "richtiger Junge" hier wohl können muss: fischen, kleine Krabben fangen, die als Köder benutzt werden, sogar Pfeifen hat Alex hier gelernt! Hüseyin und der Kaptan waren auch beide sehr lieb und aufmerksam zu Anna und brachten sie ständig mit irgendwas zum Lachen. Alex bricht bei der Frage, was ihm hier am besten gefallen hat, in Tränen aus: "Ich will nicht nach Hause, ich will hierbleiben! Uhuhuhhu!" - Seine Stellungnahme ist eindeutig...
Klaus wäre gern etwas mehr gesegelt, muss aber zugeben, dass das bei unserem Programm schwer möglich gewesen wäre, und dass er überrascht war von dem Tempo, das unser Schwergewicht unter Segeln vorgelegt hat!
Und ich? - Ich bin begeistert von der Mischung aus Kultur und Natur, aus Aktivität und Nichtstun, aus Kennenlernen von Land und Leuten und Einsamkeit. Die türkische Küche war fantastisch, ich kann mir keine bessere Besatzung vorstellen, ich habe intensive Gespräche mit den Menschen gehabt, die ich zwar oft, aber kaum je in Ruhe sehe. Dies war mit Sicherheit nicht meine letzte Blaue Reise und schon gar nicht mein letzter Besuch in der Türkei!